Stadtbericht
Erfurt
Obwohl für Erfurt nur die Beteiligung an der Urnenwahl zur Verfügung steht, liegen dennoch fast 30 Prozentpunkte zwischen Rieth und Salomonsborn. Doch nicht nur hinsichtlich der Wählerquote durchzieht eine Kluft die thüringische Landeshauptstadt: in den wahlmüden Stadtteilen finden sich rund dreimal so viele Haushalte aus den ökonomisch schwächeren Milieus. Zweimal so viele Menschen sind hier ohne Schulabschluss, die Arbeitslosigkeit vervierfacht sich sogar.
Mit 69,4 Prozent lag die Wahlbeteiligung in der Stadt Erfurt unter dem Bundesdurchschnitt (71,5). Darüber hinaus verbirgt sich auch in Erfurt hinter dem gesamtstädtischen Durchschnittswert eine stark ausgeprägte soziale Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung, obwohl für diese Studie nur die Urnenwähler berücksichtigt werden konnten. Die Urnenwahlbeteiligung lag für die Gesamtstadt bei 55,7 Prozent. Eine Einbeziehung der Briefwähler hätte – wie die entsprechenden Analysen anderer Großstädte zeigen – die soziale Spaltung der Wählerschaft noch verschärft. Insgesamt zeigt sich auch für Erfurt: Während in gut situierten Stadtvierteln nach wie vor überdurchschnittlich viele Menschen ihr Wahlrecht wahrnehmen, sind die sozial schwächeren Stadtviertel die Hochburgen der Nichtwähler.
Wo die Nichtwähler wohnen ...
Am niedrigsten lag die Beteiligungsquote an der Urnenwahl im Stadtteil Rieth mit 45,2 Prozent. Doch nicht nur in Sachen Wahlmüdigkeit zeigt sich die prekäre Lage des Stadtteils: gut zwei Drittel aller Haushalte gehören den sozial benachteiligten Milieus an. Als größte Einzelgruppe sind die Hedonisten mit rund 26 Prozent noch zahlreicher vertreten als die Prekären, denen mehr als ein Fünftel aller Haushalte zugerechnet werden kann. Der Anteil der (Fach-)Hochschulreifen an den Bildungsabschlüssen beträgt weniger als 20 Prozent, während der Anteil an Menschen ohne Schulabschluss nahezu denselben Prozentsatz erreicht. Auch die Arbeitslosigkeit mit etwa 15 Prozent zählt zu den höchsten Werten der Stadt. Die Bebauung ist zu zwei Dritteln von größeren Miets- und Hochhäusern geprägt.
Nicht nur geografisch stehen sich Rieth und der Stadtteil Berliner Platz sehr nahe: Die Urnenwahlbeteiligung liegt hier mit 45,6 Prozent nur unwesentlich höher und die soziale Lebenswirklichkeit gestaltet sich ähnlich prekär. Mit fast 75 Prozent ist der Anteil der ökonomisch schwächeren Milieus noch einmal höher als in Rieth.
Besonders das Milieu der Prekären ist überproportional stark vertreten und stellt allein bereits über die Hälfte aller ansässigen Haushalte. Die Verteilung der Bildungsabschlüsse gleicht dem Nachbarstadtviertel Rieth bis ins Detail; (Fach-)Hochschulreife und fehlende Abschlüsse sind bei niedrigen zweistelligen Prozentwerten gleichauf. Analog liegen auch die Arbeitslosenzahlen auf einem Niveau mit Rieth. Drei Viertel der vorhandenen Haushalte sind in großen Wohnblöcken und -häusern untergebracht.
Auch in anderen Stadtteilen mit unterdurchschnittlicher Urnenwahlbeteiligung – wie etwa Roter Berg, Herrenberg oder Moskauer Platz – zeigen sich ähnliche soziale Probleme, wenn auch teilweise mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ausprägungen bei den einzelnen Indikatoren (vgl. dazu die Tabelle im Anhang dieses Stadtberichts).
… wo die Wählerhochburgen sind …
Eine völlig andere Lebenswelt findet man im Stadtteil Salomonsborn vor, in dem fast drei Viertel aller Wahlberechtigten am Wahlsonntag ihre Stimme direkt im Wahllokal abgaben (73,9 Prozent). Die vorherrschenden Milieus entstammen hier den oberen Schichten bzw. dem Bürgerlichen Mainstream: Mehr als ein Drittel aller Haushalte lässt sich den Liberal-Intellektuellen zuschlagen, gut ein weiteres Drittel entfällt auf die Sozialökologischen. Knapp unter 40 Prozent gelegen, hat sich der Anteil der Personen mit (Fach-)Hochschulreife im Vergleich zu Rieth und zum Berliner Platz mehr als verdoppelt, ja sogar fast verdreifacht. Im Gegenzug halbiert sich der Anteil der Menschen ohne Schulabschluss auf sieben Prozent. Mit einem Wert von unter drei Prozent nähert sich die Arbeitslosigkeit dem Bereich der Vollbeschäftigung. Eine extrem hohe Anzahl von Ein- bis Zweifamilienhäusern prägt das Viertel, große Hochhäuser und Wohntürme sucht man hier vergebens.
Dieselben Verhältnisse findet man auch im westlichsten Stadtteil der Landeshauptstadt, in Ermstedt. Mit 73,7 Prozent lag hier die Urnenwahlbeteiligung ähnlich hoch wie in Salomonsborn. Das Milieu der Bürgerlichen Mitte stellt rund ein Drittel aller Haushalte, mehr als ein weiteres Drittel entfällt zu etwa gleichen Teilen auf die verschiedenen oberen Schichten. Die Verteilung der Bildungsabschlüsse und auch die Arbeitslosigkeit gleichen stark den für Salomonsborn ermittelten Werten und liegen damit klar über dem stadtweiten Durchschnitt. Genau wie beim Spitzenreiter prägen auch in Ermstedt fast ausschließlich Ein- bis Zweifamilienhäuser und kleinere Mehrfamilienhäuser das Stadtbild.
Stark oder zumindest in einzelnen Aspekten vergleichbare soziale Lebensverhältnisse zeigen sich in Stadtteilen mit ebenfalls überdurchschnittlich hoher Wahlbeteiligung, wie in Tiefthal, Töttelstädt oder Büßleben.
… und wo die Wahlbeteiligung im Durchschnitt liegt
Das nördlich gelegene Kühnhausen befindet sich mit einer Beteiligung an der Urnenwahl von 60,9 Prozent im Erfurter Mittelfeld. Die Verteilung der Milieus erscheint hier ausgewogener: Einem Drittel an Haushalten aus sozial prekären Milieus steht eine Mehrheit von Haushalten aus den Milieus des Bürgerlichen Mainstreams gegenüber. Die Bürgerliche Mitte und die Pragmatisch-Adaptiven stellen mit jeweils einem guten Fünftel der Haushalte die größten Einzelgruppen dar.
Auch das Bildungsprofil gestaltet sich ausgeglichen: Jeder Fünfte besitzt die (Fach-)Hochschulreife, nur noch etwa jeder Zehnte hat keinen Abschluss. Die Arbeitslosigkeit ist mit rund fünf Prozent höher als in Salomonsborn oder Ermstedt, liegt aber noch deutlich unter den Werten in Rieth oder Berliner Platz. Eine ausgewogene Bebauung unterstreicht den heterogenen Charakter des Stadtteils.
Fazit
Die Wahlbeteiligung ist auch in Erfurt – wie in allen anderen untersuchten Großstädten Deutschlands – sozial gespalten. Während in sozial besser situierten Stadtteilen überdurchschnittlich viele Menschen ihr Wahlrecht ausüben,
ziehen sich in den ökonomisch schwächeren Vierteln viele Menschen aus der demokratischen Teilhabe zurück. Das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2013 ist deshalb auch in Erfurt, gemessen an der Sozialstruktur der Bevölkerung, nicht repräsentativ.